Ein lauer Sommerabend in Berlin. Im Straßencafé am Helmholtzplatz bestellt eine junge Frau einen Cappuccino – doch statt sich zurückzulehnen, starrt sie angestrengt auf ihr Smartphone. Zwei Stühle weiter tippt ein Mann hektisch auf seinem Laptop, während er mechanisch an seinem Eiskaffee nippt. Es ist ein typisches Bild für eine Gesellschaft, in der selbst der Genuss in den Takt der To-do-Listen geraten ist.
Tatsächlich geben 46 Prozent der Menschen in Deutschland an, dass es ihnen im Alltag immer seltener gelingt, etwas wirklich zu genießen. Das geht aus einer Studie des Rheingold Salons hervor. Besonders ausgeprägt ist das Phänomen bei den 18- bis 34-Jährigen: In dieser Altersgruppe liegt der Anteil bei 55 Prozent.
Genuss nur mit Leistung?
„Wir erleben eine Kultur des Funktionierens“, sagte Studienleiterin Ines Imdahl. „Selbst das Genießen muss verdient werden.“ Denn für 81 Prozent der Befragten gilt: Genuss fällt ihnen nur dann leicht, wenn sie zuvor etwas geleistet haben. Damit verschwindet der Genuss aus dem Alltag – und wird zur Belohnung, die auf einen fernen Zeitpunkt vertagt wird.
Diese Verknüpfung von Leistung und Genuss zieht sich durch alle Alters- und Berufsgruppen. Besonders auffällig: Viele Berufstätige berichten, dass sie selbst im Urlaub Schwierigkeiten haben, innerlich abzuschalten. Die Fähigkeit, den Moment zu erleben, weicht einer permanenten inneren Unruhe – und damit auch einem Verlust von Lebensqualität.
Ein gesellschaftlicher Warnruf
Die Ergebnisse der Studie könnten nicht aktueller sein. In einer Zeit, in der psychische Belastungen, Burnout und Stressfolgen zunehmen, wird Genuss zur Gegenbewegung – und gleichzeitig zur Herausforderung. Laut Rheingold Salon steht Genuss zunehmend unter dem Verdacht, „nutzlos“ zu sein. Wer sich Zeit nimmt, zu kochen, ein Buch zu lesen oder einfach gar nichts zu tun, sieht sich schnell mit dem Vorwurf der Trägheit konfrontiert – oder macht sich diesen selbst.
Ines Imdahl spricht von einem „Verlernen des Genießens“, das sich schleichend und systematisch vollziehe. Besonders junge Menschen fühlten sich stark unter Druck, Erwartungen zu erfüllen, sich ständig zu optimieren und in jeder Lebenslage zu performen – auch in der Freizeit.
Genuss braucht Freiräume
Dabei ist der Wunsch nach Genuss durchaus vorhanden. Viele Befragte verbinden ihn mit Momenten der Ruhe, mit gutem Essen, Natur oder zwischenmenschlicher Nähe. Doch diese Bedürfnisse geraten ins Hintertreffen, wenn Zeit, Konzentration und innere Erlaubnis fehlen. Genuss wird nicht nur durch äußere Zwänge erschwert – sondern auch durch die eigene Haltung.
Was also tun? Die Studienautoren fordern einen bewussteren Umgang mit Zeit und eine gesellschaftliche Neubewertung des Müßiggangs. Genuss dürfe kein Luxus sein – sondern müsse als Teil gesunder Lebensführung verstanden werden. Denn wer regelmäßig genießt, lebt nicht nur zufriedener, sondern auch gesünder, wie zahlreiche psychologische Studien belegen.
Der Mann mit dem Laptop im Straßencafé klappt ihn schließlich zu. Er lehnt sich zurück, hebt die Tasse – und nimmt den ersten richtigen Schluck. Vielleicht beginnt in diesem Moment ein kleines Stück der Rückeroberung des Genusses.